Good News 48/25

Tradition mit Heiligenschein.

Gibt es tatsächlich Dinge, die sich hartnäckiger halten als die Gerüchteküche an der Kaffeemaschine einer Kantine? Ja, Traditionen. Jedenfalls auf den ersten Blick. Sie geben sich gerne als uralte Konstanten, dabei zeigen sie mittlerweile eine erstaunliche Wandlungsfreude. Was einst als unverrückbare Gewohnheit galt, etwa der Sonntagsbraten oder der grosse Frühjahrsputz, wird heute durch reinigende Yoga-Rituale, Meal-Prep-Sonntage oder das meditative Ausmisten der Kleiderschränke ersetzt. Mit anderen Worten: Die Halbwertszeit moderner Bräuche schrumpft, als stünden sie unter digitalem Zeitdruck. Was früher über Generationen weitergereicht wurde, taucht heute als Tutorial auf und landet schon morgen im Museum der vergessenen Trends. Heisst das, dass Traditionen nun vollends veraltet, überholt und unnötig sind? Natürlich nicht. Denn sobald der Kalender den 1. Advent zeigt, drückt ein ganzes Land auf den Ritual-Turboknopf und alles, was vorher beiläufig war, bekommt einen beinahe spirituellen Glanz.

Plötzlich gibt es mehr Traditionen als Tage im Dezember, mehr Kerzen als Tageslicht und mehr feste Abläufe als in jeder Hundeerziehung. Menschen, die elf Monate lang betont ritualarm durchs Leben spazieren, verwandeln sich in ausgefuchste Adventsstrategen, Weihnachtsback-Gurus oder Kerzensammlerinnen. Guezli backen wird zum Hochleistungssport, Adventskränze binden zu einem Architekturprojekt, und sogar der Küchenverweigerer von nebenan weiss nun genau, wie viel Zimt ein richtiges Chrömli braucht. Der Dezember wirkt wie ein Ritualbeschleuniger. Er zieht alles an, was nach Tradition aussieht oder riecht, und lässt es in überdimensionierter Form aufleuchten. Und wir? Wir machen begeistert mit. Weil diese Bräuche Rhythmus, Erinnerungen und ein bisschen Bauchweh am dritten Fondueabend schenken. Genau darin liegt ihr unwiderstehlicher Zauber. Traditionen erinnern daran, dass nichts starr ist, sondern jedes Jahr neu erfunden werden darf. Hauptsache, es fühlt sich nach uns an. Und nach einer Spur Zimt.

Simone Leitner Fischer