Ratlos? Gut so!
Früher galt sie als Schwäche. Heute ist sie fast schon ein Stilmittel: die Ratlosigkeit. Einfach mal nicht weiterwissen und keinen Plan B haben. Vielleicht kann Ratlosigkeit als eine Haltung zwischen Überforderung und Eleganz beschrieben werden. Ich finde, sie steht uns besser, als wir zugeben. Denn wer behauptet, in unserer Welt immer den Durchblick zu haben, hat vermutlich den Überblick verloren. Alles ist erklärbar, aber vieles schwer zu verstehen. Für jede Frage haben wir eine App, für jedes Problem ein Update. Trotzdem haben wir keine Ahnung mehr, wie Stille auszuhalten ist. Orientierung? Wird überbewertet. Wir leben in einer Zeit, in der das Navi uns sagt, wann wir falsch abbiegen. Aber wir merken kaum, wenn sich unser Denken verfranst. Die stilvolle Ratlosigkeit hat viele Gesichter. Sie trägt Anzug in Sitzungen, Jeans in Talkshows oder Yogahosen beim Sport. Sie nickt klug, wenn sie keine Ahnung hat, und ruft «Wow, spannend!», wenn sie geistig längst ausgestiegen ist. Sie ist das Chamäleon unserer Zeit: anpassungsfähig, höflich, willkommen. Wir sollten Ratlosigkeit gar nicht als Defizit wahrnehmen, vielmehr als eine ehrliche Reaktion auf die Komplexität des Lebens.
Was wäre, wenn Ratlosigkeit die neue Achtsamkeit ist? Nur ohne Yoga-Matte. Einfach das ehrliche Eingeständnis, dass nicht alles sofort einen Sinn ergeben muss. Ratlosigkeit entschleunigt. Sie zwingt uns, kurz innezuhalten, bevor wir antworten, entscheiden oder urteilen. Und vielleicht ist genau dieses Innehalten das, was uns manchmal fehlt. Aber Vorsicht: Denn wer ratlos ist und nicht sofort antwortet, denkt womöglich zu lange nach. Und wer zögert, könnte gerade dabei sein, seine Meinung zu überprüfen. Ein Vorgang, der in sozialen Medien längst als Schwäche und Unentschlossenheit gilt. Dennoch plädiere ich für eine Renaissance der Ratlosigkeit. Für mehr Menschen, die «Ich weiss es nicht» sagen, ohne rot zu werden. Für mehr Sätze und Fragen, die Raum lassen, statt sofort alles abzublocken. Und für die Erkenntnis, dass Denken nicht automatisch in Gewissheit mündet. Aber oft führen Gedanken zu viel besseren Fragen. Und wer weiss, vielleicht ist Ratlosigkeit sogar die höchste Form der Bildung: nicht zu wissen, aber zu verstehen, dass das völlig in Ordnung ist? Wer ratlos bleibt, bleibt offen. Und Offenheit ist, in Zeiten geschlossener Systeme, ein ziemlich cooler Ausbruch.
Simone Leitner Fischer