Reduziert macht unvernünftig.
Jahr für Jahr, zuverlässig und immer zur selben Zeit – ein faszinierendes Phänomen: Unsere Konsumbereitschaft nimmt schlagartig über Nacht zu. Selbst Menschen, die sich für rational halten und wirtschaftlich denken, werden kurzzeitig von ihren eigenen Instinkten überrannt. Und die emotionalen Exemplare? Die sind sowieso leichte Beute. Wenn Vernunft einer plötzlichen Reflexhandlung weicht und sich Kalkül in Jagdfieber verwandelt, dann wissen wir: Es ist Ausverkauf. Sie lachen jetzt? Zu Unrecht. Denn stellen Sie sich vor: Ein Produkt, reduziert von 299 auf 129 Franken. Das ist kein schnöder Spontankauf – das ist eine Heldentat! Eine Ersparnis, fast so hoch wie der Originalpreis. Sie widersprechen und betonen, dass wir das betreffende Konsumgut weder gesucht noch gebraucht hätten? Zugegeben, ein unterschätzter Nebenschauplatz. Aber allein die Vorstellung, während des Sales nicht zum reduzierten Preis einzukaufen, erscheint wie eine Vergeudung von Möglichkeiten, von Potenzial – fast schon fahrlässig.
Ausverkäufe sind ein Lehrstück über unsere ambivalente Beziehung zum Konsum. Wir haben viel. Aber wollen immer noch mehr. Unsere Schränke platzen aus allen Nähten, doch wir fühlen uns um etwas beraubt, wenn wir die vermeintlich einmalige Gelegenheit der Preisreduktion nicht nutzen. Besonders bemerkenswert: unsere Sammelleidenschaft für Wintermäntel. Jeder Mensch benötigt exakt ein Exemplar. Gut, vielleicht zwei. Wenn wir gnädig sind, drei. Doch was passiert im Sale? Plötzlich erscheint es logisch, noch einen zeitlosen Kurzmantel in Beige für die besonders kalten Tage zu kaufen. Und noch eine leichtere Variante für den Übergang. Schliesslich wollen wir vorbereitet sein. Für jede Wetterlage. Man weiss ja nie – vielleicht erfindet das Wetter plötzlich neue Aggregatzustände. Nur zu! Wir sind gewappnet, wir haben das passende Kleidungsstück im Schrank. Aber wenn wir in uns gehen? Wenn wir erkennen, dass der beige Mantel doch unnötig war? Was lernen wir daraus? Nichts. Bis zum nächsten Ausverkauf.
Simone Leitner Fischer