Good News 36/23

Urteilen Sie schnell?

Uns wurde jahrelang eingetrichtert, dass der erste Eindruck zähle. Dass wir keine zweite Chance für den ersten Eindruck hätten. Dass wir uns gut überlegen sollten, wie wir uns in der Öffentlichkeit geben, was wir sagen und wie wir uns stylen würden. Denn Sie wissen ja: Wenn ein Urteil einmal gefällt wird, ist eine Korrektur nur schwer möglich. Ein altes Verhaltensmuster, das nicht mehr zählt? Nein, Fakt ist nach wie vor, dass wir im Alltag ständig andere Menschen be- und verurteilen. Und erst noch auf Grund von äusserst wenig Informationen. Da sind wir topfit: In Sekundenschnelle entscheiden wir, ob uns jemand sympathisch ist oder nicht. Laut Studien hat sich im letzten Jahrzehnt auch keine Trendwende abgezeichnet. Der Prozess läuft unbewusst ab. Seit Generationen trainieren wir unser Urteilsvermögen. Schliesslich müssen wir wissen, ob eine Person Freundin oder Feind ist. Trotzdem finde ich, sollten wir uns ab und zu überraschen lassen und auch mal ein Urteil revidieren. Oder ein Vorurteil.
In ein paar Wochen werden wir auf die Probe gestellt: Am 22. Oktober wählen wir unser neues Parlament – die 200 Sitze im Nationalrat und die 46 Sitze im Ständerat. Jetzt läuft unser Urteilsvermögen auf Hochtouren. Jetzt beobachten wir mit Argusaugen die kämpfenden Kandidatinnen und Kandidaten, die um ein gutes Image, um eine sympathische Aussenwirkung und um einen guten Eindruck bemüht sind. Aber wie geht es den Politikerinnen und Politikern, die in Sekundenschnelle von uns Wählenden be- und natürlich auch verurteilt werden? Auf jeden Fall sollten wir uns die Zeit nehmen, Inhalte zu lesen, Versprechen zu prüfen und Posts richtig zu werten. Es kann auch mal sein, dass unsere favorisierten Kandidatinnen und Kandidaten etwas Unpassendes sagen oder pos­ten. Aber sind wir ehrlich: Wie oft machen wir Fehler? Schon klar, wir sind nicht diejenigen, die nach Bern ins Parlament wollen. Aber trotzdem braucht es diese 246 Menschen, die unsere Demokratie sichern. Also bleiben wir fair. Und gehen wählen.

Simone Leitner Fischer