Good News 18/23

Wer schämt sich?

Die neue Projektleiterin für die Praktikantin gehalten? Über den Chef gelästert, der im Raum stand? Oder die Kaffeetasse mit der Aufschrift «Genie bei der Arbeit» im Meetingraum vergessen? Peinliche Patzer lauern überall. Sind deshalb aber nicht weniger schlimm. Vor allem dann nicht, wenn die Peinlichkeiten für Gelächter, Tadel oder Mehrkosten sorgen. Auf Reisen beispielsweise rechnen wir Schweizerinnen und Schweizer nicht a priori damit, dass es in einer Stadt mehrere Flughäfen geben kann. Eine Diversität, die weltweit aber recht verbreitet ist. Kurz: Wer den Flug verpasst, weil er oder sie in der richtigen Stadt am falschen Flughafen verzweifelt auf die Anzeigetafel starrt, die Flugnummer aber nicht findet, ist in einer peinlichen Situation. Erst später, wenn einige Zeit ins heimatliche Land gezogen ist, können wir diese Geschichte erzählen – und viel Gelächter ernten. Oder wir schweigen und begründen unsere verspätete Ankunft in Zürich mit einer plausiblen Ausrede. Sicher die souveränere Lösung.
Aber wie entstehen Schamgefühle? Was ist uns peinlich? Die Wissenschaft sagt, in erster Linie dann, wenn wir soziale Regeln missachten. Im Alltag zeigt sich aber deutlich, dass nicht alle leiden. Was ist mit denen, die ihre Peinlichkeiten nicht realisieren oder sie genüsslich zelebrieren? Sich mit dem Missachten von sozialen Regeln brüsten? Die Philosophie sagt, es müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine Person sich schämt: Zunächst einmal muss erkannt werden, dass es eine Norm für die Situation gibt, in der sie sich gerade befindet. Und diese Norm muss akzeptiert und als Verhaltensvorschrift angesehen werden. Mit anderen Worten: Scham ist wertvoll, hat mit Respekt und Wertvorstellungen zu tun. Ganz ehrlich, ich finde es gut, wenn wir uns ab und zu schämen. Denn wir dürfen nicht vergessen: Stolpern macht menschlicher. Mehr noch, unsere Fehler machen uns liebenswerter. Zeigen unsere Unzulänglichkeiten – und kommen damit anderen näher. Also lassen Sie uns auch mal nicht souverän sein.

Simone Leitner Fischer