Good News 02/23

Haben Sie Mut zur Lücke?

Warum haben wir immer den Drang, jede Lücke so schnell wie möglich zu füllen? Jeden Abstand auf der Autobahn manisch zu schliessen? Und bei langen Warteschlangen dem Menschen vor uns Zentimeter für Zentimeter auf die Pelle zu rücken? Warum folgen wir nicht einfach dem Trend und haben Mut zur Lücke? Einfach etwas nicht oder unvollständig tun. Einfach mal mutig und unvollkommen sein. Das jedenfalls ist derzeit sehr angesagt und entspricht dem Zeitgeist. Ich persönlich bin aber hin- und hergerissen, weiss nicht so recht. Denn eigentlich ist Perfektionismus doch gar nicht so schlecht und Mut zur Lücke eher suspekt. Mehr noch: Macht die Mission nicht stutzig? Beinhaltet sie nicht die Aufforderung, etwas auszulassen, etwas zu ignorieren? Warum sollten wir denn plötzlich Lücken annehmen? Früher jedenfalls wurden Lücken negativ bewertet. Und mal ehrlich: Fehlt ein Zahn, wird das bei Kindern noch als niedlich empfunden, aber bei Erwachsenen? Und die Lücken im Lebenslauf, sind die heute etwa en vogue?

Bevor Sie sich jetzt fragen, ob ich unsensibel geworden bin, kann ich Sie beruhigen: Ich habe lediglich mit dem Begriff Lücke gespielt. Mir ist klar, dass Perfektionismus zu Panik führen kann. Dass es für uns Menschen enorm wichtig ist, fünf auch mal gerade sein zu lassen. Dass Unvollkommenheit befreiend ist. Und der Alltag immer auch Unerwartetes zu Tage bringt – eben diese Lücken. Mir fallen spontan auch Schweizer Filme ein. Diejenigen, die nicht nach dem Hollywood-Muster geschrieben wurden, das Happy End weder Pflicht noch vorhersehbar ist und das Drehbuch der bitteren, dramatischen, schönen oder bunten Realität entspricht. Mit Sicherheit ein gutes Beispiel für Mut zur Lücke – eine besondere Art der Ehrlichkeit. Denn keine authentische Biografie ist
perfekt. Keine Familiengeschichte unbelastet. Und doch gibt es Momente, die vollkommen sind. Nämlich wenn Filme gezeigt werden, die genau diese Geschichten erzählen und damit nachhaltige Erinnerungen schaffen. Wie an den Solothurner Filmtagen.

Simone Leitner Fischer